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Chefsache – Michael Tsokos – Der Mann an der Knochensäge

Kein deutscher Rechtsmediziner ist so berühmt wie er. Professor Michael Tsokos ist der Mann, der dem Tod auf der Spur ist. Der gebürtige Kieler ist Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Charité Berlin und seit Jahren auch Buchautor. Zuletzt sorgte er mit einer kleinen Gastrolle im “Münster“-Tatort mit Jan Josef Liefers und Axel Prahl für Diskussionen. Der WDR hatte ihn nämlich aus der Tatort-Folge rausgeschnitten. Als Grund gab der Sender an, dass Liefers und Tsokos für den RTL-Streamingdienst TV Now in einer gemeinsamen Serie auftreten. Dafür wolle die ARD keine Werbung machen. Tsokos kritisierte die Aktion als Zensur, was ihm auch Kritik einbrachte.

Im Interview bei CHEFSACHE – Macher im Gespräch mit Oliver Dunk vom September 2020 gibt Tsokos Einblicke in seine Arbeit in der Rechtsmedizin und als Buchautor. Wir wünschen spannende Unterhaltung.

Das Interview zum Nachlesen:

Oliver Dunk: „Chefsache Macher im Gespräch“ mit Oliver Dunk. Ein Tausendsassa ist heute mein Gast in „Chefsache Macher im Gespräch“, Rechtsmediziner, Buchautor, Kolumnist, Moderator, Kickbox-Manager und ein bisschen geschauspielert hat er auch schon. Ehrenamtlich engagiert er sich für den Schutz von Kindern. Sein neues Buch heißt „Zerrissen“. Ich begrüße das Multitalent Prof. Dr. Michael Tsokos.

Michael Tsokos: Schönen guten Tag, Herr Dunk.

Oliver Dunk: Muss ich immer Prof. Dr. sagen…

Michael Tsokos: Nein, bitte…

Oliver Dunk: … oder kann ich das im Laufe des Gespräches weglassen?

Michael Tsokos: Bitte lassen Sie es weg.

Oliver Dunk: Sie sind bei all dem, was Sie tun, vielleicht – denke ich – auch ein bisschen zerrissen. Also den Job in der Klinik, das Hobby, das Ehrenamt usw. Wie kriegt man das alles gebacken?

Michael Tsokos: Also da ist wirklich Zeitmanagement erforderlich und da bin ich mittlerweile… meine Frau sagt, ich hätte das mittlerweile perfektioniert, wenn die in meinen Terminkalender guckt. Also da muss man wirklich eng getaktet sein, sich auch immer drauf verlassen können, dass alle anderen sich auch an die Zeitdisziplin halten. Aber dann kriegt man das unter einen Hut und das sind vor allen Dingen alles Sachen, sie Spaß machen. Es ist ja nicht irgendwie, dass ich mir was aufbürden lasse, wozu ich keine Lust habe.

Michael Tsokos und Sebastian Fitzek
Michael Tsokos und Autor-Kollege Sebastian Fitzek. Fotos: B. Pauli, AGENTUR FOCUS

Oliver Dunk: Und das Schreiben, was war da der Antrieb? Also die Therapie, um den Scheiß im Sektionssaal zu verarbeiten oder…?

Michael Tsokos: Also begonnen hat das mit einem Autor, der mich gefragt hat „Sie sind doch Rechtsmediziner. Können Sie mich nicht mal für ein Buch beraten?“ und dann habe ich dem immer mal wieder Geschichten erzählt von Fällen und Erlebnissen und Tatorten und dann hat er gesagt „Da müssen Sie mal ein Buch drüber schreiben. Das gibt es doch gar nicht“. Dann habe ich eben mit Sachbüchern angefangen, echte Fälle, und bin dann über Sebastian Fitzek in die Belletristik gekommen, mit dem ich ein Buch zusammen geschrieben habe „Abgeschnitten“, und das hat mir so viel mehr Spaß gemacht und da liegen Sie richtig, das ist wahrscheinlich, wenn ich das retrospektiv sehe, tatsächlich eine Art Therapie, dass ich mir Dinge nicht nur runterschreiben kann, sondern sie auch so biegen kann und meine Protagonisten Dinge machen lassen kann, die ich nicht machen kann. Das hilft mir sicherlich.

Oliver Dunk: Zum Beispiel, was können Sie nicht machen?

Michael Tsokos: Ich gehe nicht nach Feierabend an irgendwelche Tatorte oder observiere Verdächtige oder so. Das können dann meine Protagonisten machen, aber ich bin dann schön abends zu Hause.

Oliver Dunk: Und wann schreiben Sie dann eigentlich, nachts, wenn die Kinder schlafen und die Frau im Bett ist, oder wie?

Michael Tsokos: Auch. Vor Corona habe ich das eigentlich immer gut auf Kongressen machen können. Statt abends an der Hotelbar zu sitzen, saß ich im Hotelzimmer oder auch auf Lesereisen oder auf Flughäfen eigentlich immer Laptop auf. Das Gute ist, dass ich das alles schon im Kopf habe und gut durchgeplottet. Also ich kann dann direkt, wenn ich das Laptop an habe, was schreiben und bin nicht einer von den Autoren, die irgendwie am Tag so eine Seite schreiben.

Oliver Dunk: Also ich meine, dieses Jahr 2020 haben Sie zwei Bücher rausgebracht.

Michael Tsokos: Genau. Also einmal „Abgefackelt“ im Februar und jetzt „Zerrissen“ am 1. Oktober.

Oliver Dunk: Genau, „Zerrissen“, so sieht es aus, das neue Buch von Michael Tsokos, Prof. Dr., das sagen wir dann nicht mehr.

Michael Tsokos: Das lassen wir weg.

Oliver Dunk: Ja, genau. Ich habe mal nachgerechnet, ich glaube, seit 13 Jahren schreiben Sie, ne?

Michael Tsokos: Genau, seit 13 Jahren.

Oliver Dunk: Und seit einiger Zeit auch Krimis. „Zerrissen“ heißt der neueste von Ihnen und Sie schreiben vorne auch drin, da steht groß „True Crime“, also basierend auf wahren Erlebnissen, und Sie erklären ganz schön, dass viele Filme, viele Bücher, wo steht „Nach wahren Begebenheiten“, dass das gar keine wahren Geschichten sind.

Michael Tsokos: Nee, und vor allen Dingen, was ich in meinem Nachwort auch anklingen lasse, es ist nicht alles True Crime, wo auch „True Crime“ draufsteht.

Oliver Dunk: Was heißt das konkret?

Michael Tsokos: Wahre Kriminalfälle und da kann ich natürlich als Journalist oder Autor mir irgendeine Geschichte nehmen aus der Zeitung und die Umbauen. Das ist aber in meinen Augen nicht True Crime. True Crime ist eigentlich nur echt, wenn Leute, die vom Fach sind, drüber schreiben, ob das Kriminalbeamte sind, Profiler, Rechtsmediziner, die eben genau wissen nicht nur, wie man die Ermittlungen führt, sondern auch wie man Ermittlungsakten liest, wie die Abläufe sind und das können eben nicht alle, weil sie eben nicht aus der Profession kommen und ich finde jetzt als jemand vom Fach, dass ich merke, ob jemand weiß, wovon er spricht oder nicht.

Oliver Dunk: Ist die Realität dann vielleicht ein bisschen fieser als die Fiktion, das, was sich Leute ausdenken können?

Michael Tsokos: Absolut. Also die Realität ist deutlich härter. Ich muss bei den Fällen, die ich verarbeite in meinen Büchern, tatsächlich Abstriche machen, damit es nicht Horror wird.

Oliver Dunk: Also Gruselfaktor ist nicht wichtig?

Michael Tsokos: Nein, Gruselfaktor ist nicht wichtig. Ich versuche und ich glaube, dass… jedenfalls vom Leserfeedback weiß ich das, ich versuche meine Leser mitzunehmen, über die Schulter zu schauen beziehungsweise meinen Protagonisten im Sektionssaal. Das heißt, ich sage dann auch mal „Er zog den Beatmungstubus mit einem schmatzenden Geräusch aus dem Mund der Toten“. Dann kann man sich vorstellen, wie es ist. Oder „Das Wasser läuft in den Abfluss und das Rot des Blutes wird langsam immer blasser“. Also das sind so die Impressionen, die ich habe, und ich versuche dann eben diese Bilder auch zu erzeugen. Aber es geht nicht um Grusel oder Splatter.

Oliver Dunk: Das heißt, wenn Sie im Sektionssaal sind Woche für Woche, gibt es da Fälle, wo Sie sagen, das könnte fürs neue Buch taugen?

Michael Tsokos: Absolut. Also das ist jetzt nicht jeden Tag der Fall. Ich bin jeden Tag selbst im Sektionssaal. Zwei, drei Tage die Woche seziere ich auch mit. Ansonsten lasse ich mir alle Fälle immer zeigen. Und natürlich gibt es immer mal wieder den Fall, der heraussticht. Aber es ist jetzt nicht so, dass ein einzelner Fall dann unbedingt ins Buch muss, sondern ich verwebe auch viel miteinander.

Oliver Dunk: Würden die Angehörigen der Toten die Geschichte wiedererkennen?

Michael Tsokos: Nein. Das ist so weit entfremdet, dass man das nicht wiedererkennen kann.

Oliver Dunk: In dem neuen Buch „Zerrissen“ geht es beispielsweise um eine Frau, die tot ist, aber gar nicht tot ist. Wie kann denn sowas passieren?

Michael Tsokos: Also das gibt es tatsächlich in der Medizin, das sogenannte Lazarus-Phänomen, dass fälschlicherweise bei jemandem der Tod festgestellt wird und ich habe mich da an einen Fall, den ich selbst erlebt habe in der Rechtsmedizin in Hamburg vor 20 Jahren, angelehnt. Da ist nämlich eine Frau per Notarztwagen als verstorben in die Rechtsmedizin eingeliefert worden, öffentliche Leichenhalle, und der Student, der Nachtdienst hatte, ist mir ihr im Fahrstuhl runtergefahren und dann sah er, dass sich der Leichensack hob und senkte.

Oliver Dunk: Wie im Thriller.

Michael Tsokos: Das ist es wirklich und dann gab es kurz darauf die unglaubliche Situation, dass eben zwei Notarztwagen vor der Rechtsmedizin standen. Also das ist ein tatsächlicher Fall, der sich ereignet hat.

Oliver Dunk: Da hat aber der Arzt, der den Tod der Frau bescheinigt hat, wahrscheinlich gepfuscht, ne?

Michael Tsokos: Ja, also der hat zumindest die sicheren Todeszeichen nicht festgestellt. Also kann er ja nicht, weil sie ja nicht tot war.

Oliver Dunk: Mörder bleiben auch oft unerkannt. Solche Fälle gibt es ja auch, weil derjenige, der den Totenschein ausstellt, nicht genau hinschaut oder vielleicht auch die Kompetenz da nicht hat. Ist es ein Fehler, dass Rechtsmediziner nicht so oft hingezogen werden?

Michael Tsokos: Jein. Also in Berlin sind wir sehr involviert in die Untersuchung von ungeklärten Todesfällen, aber es gibt natürlich auch Flächenländer, Flächenbundesländer, wo die nächste Rechtsmedizin 400 Kilometer weg ist und wenn man mal guckt, es gibt in Deutschland 220 bis 250 Rechtsmediziner. Das können Sie gar nicht flächendeckend abbilden.

Oliver Dunk: In Ihrem neuen Buch geht es auch um ein misshandeltes Kind, ein ganz tragischer Fall. Vielleicht erzählen Sie uns das nochmal, denn Sie sind ja auch jemand, der sich für das Kindeswohl interessiert, sich engagiert. Was ist in diesem Fall passiert?

Michael Tsokos: Also das ist auch wieder angelehnt an einen echten Fall, den ich vor einigen Jahren untersucht habe, wo ein Kind schwer… ein knapp zwei Jahre altes Mädchen schwere Misshandlungen erlitt und danach überhaupt nicht klar war, was passiert ist. Ich war in dieser Gerichtsverhandlung und bin von den Eltern, weil ich gesagt habe, diese Verletzungen können nur von Misshandlungen herrühren, von den Eltern aufs Übelste beschimpft worden im Gerichtsflur und bedroht worden, wie es mir das einfallen könnte, das würde ihre Tochter ja nicht machen. Die Frau ist dann wegen schwerer Körperverletzung aufgrund meines Gutachtens verurteilt worden und dann zwei Jahre später kam nochmal eine Revisionsverhandlung, weil sie nämlich dann eingeräumt hat „Ich war gar nicht alleine, ich hatte einen Freund da und dieser Mann hat diesem Kind dann tatsächlich auf den Kopf getreten“. Das kam dann erst nachher raus. Sie wollte eben nicht, dass ihre Eltern wissen, dass sie mit dem ein Verhältnis hatte. Aber das ist eben die reale Grundlage. Und weil Sie es ansprachen, Herr Dunk, ich bin Botschafter des Deutschen Kindervereins, bin auch ärztlicher Leiter der Gewaltschutzambulanz an der Charité und insofern Kindesmisshandlung und alles was mit Kindeswohlgefährdung zu tun hat, ist mir auch tatsächlich ein Anliegen auch als Vater.

Oliver Dunk: Ich habe mal nachgeguckt, Sie werden es bestätigen oder auch nicht: 1.200 tote Körper obduzieren Sie jedes Jahr und über 200.000 in Ihrer Karriere. Das klingt natürlich als eine schreckliche Zahl. Warum so viele? Sie waren im Krieg, glaube ich, in Bosnien, ne?

Michael Tsokos: Also ich habe verschiedene Identifizierungsmissionen gemacht einmal für die UN in Bosnien und Kosovo – das war 1998 und 1999 -, die Toten des Jugoslawienkrieges dort identifiziert und dann nach dem Tsunami in Thailand direkt danach und da standen wir wirklich in Tempelhallen, wo zehntausende von Toten auf dem Boden lagen. Aber auch, wo ich die Rechtsmedizin gelernt habe zehn Jahre in Hamburg, da haben wir auch im Jahr 1.000 Obduktionen durchgeführt. In Berlin führen wir sogar über 2.000 durch, also 2.200 im Jahr.

Oliver Dunk: Nimmt Sie das noch mit?

Michael Tsokos: Also es ist jetzt nicht so, dass ich mich da jeden Morgen überwinden muss, zur Arbeit zu fahren, aber es gibt natürlich immer wieder Fälle, auch gerade tragische kindliche Todesfälle. Das können Unfälle sein, das können aber auch Misshandlungen sein, die man schon mitnimmt. Jetzt nicht, dass sie mich aus dem Schlaf schrecken, aber wo ich schon schlucken muss und einige Zeit drüber nachdenke.

Oliver Dunk: Ihre erste Begegnung mit einem Toten im Studium, war das so, wie man sich das aus Filmen vorstellt? Die jungen Studenten sehen die Leiche, die zu obduzieren ist, und müssen sich erstmal übergeben?

Michael Tsokos: Nein, das war nicht so. Die erste Leiche habe ich in Anatomie gesehen. Da muss man sich vorstellen, die präparierten Körper sehen gar nicht mehr unbedingt menschlich aus. Die sind so gräulich, vom gräulichen Kolorit. Das Gesicht ist auch abgedeckt mit einem grünen Tuch und man präpariert dann eigentlich nur bestimmte Körperregionen. Das heißt also, man sieht eigentlich gar nicht den Körper als Ganzes.

Oliver Dunk: Ihr Protagonist im neuen Buch, ich glaube, der vierte Band ist das jetzt, Fred Abel in „Zerrissen“.

Michael Tsokos: Genau.

Oliver Dunk: Das ist ein Typ, da denke ich, das ist eigentlich Michael Tsokos. Also das ist sein Pseudonym sozusagen. Oder?

Michael Tsokos: Also privat habe ich mit Fred Abel eigentlich nichts am Hut. Fred Abel ist ein totaler Nerd, völlig beziehungsgestört und geht seiner Umwelt ganz schön auf den Geist, wenn ich das mal so sagen darf. Aber als Rechtsmediziner ist da natürlich 99 Prozent Michael Tsokos drin, weil der natürlich so denkt und überlegt, wie ich es mache, wie ich an Fälle rangehe.

Oliver Dunk: Ist ja ganz schön, ne? Also man kann sozusagen in diese Figur…

Michael Tsokos: Man kann sich teilen, so richtig schön…

Oliver Dunk: Genau, die Dinge ausleben, die…

Michael Tsokos: Split Personality.

Oliver Dunk: … die man sonst nicht hat und dieser Fred Abel nutzt auch eine Technik, Superprojektion nennt sich die. Das haben Sie, glaube ich, von Ihrem Doktorvater mal gelernt. Das machen Sie auch. Und was heißt das konkret?

Michael Tsokos: Die Superprojektion, dabei werden verschiedene Abbilder übereinander geführt, wenn man zum Beispiel feststellen will, ob eine Verletzung von einer bestimmten Tatwaffe herrührt. Mittlerweile machen wir das mit Computertomografie. Das heißt, wir haben dreidimensionale Bilder oder unsere Scans von den Verletzungen und können dann eben auch Werkzeuge durchs CT fahren und das dann abgleichen.

Oliver Dunk: Okay. Also wenn man es sich mal anschaut, welche Möglichkeiten Sie haben, ich würde mal sagen, Mord und Verbrechen lohnt sich nicht, oder?

Michael Tsokos: Also wenn der Leichnam bei uns auf den Tisch kommt, dann werden wir ein Tötungsdelikt in jedem Fall nachweisen auch durch nachfolgende toxikologische Untersuchungen, auch wenn der Leichnam schon im Zustand weit fortgeschrittener Fäulnis ist. Aber wenn der Leichnam nicht zu uns kommt, wenn gar nicht von Anfang an der Verdacht besteht, das ist das Problem. Dann hilft auch der beste Rechtsmediziner nichts.

Oliver Dunk: Mein Gast in „Chefsache Macher im Gespräch“, der Rechtsmediziner und Buchautor Michael Tsokos. „Zerrissen“, das zweite Buch in diesem Jahr. Aber noch eins wird es dann nicht mehr geben, ne?

Michael Tsokos: Das Jahr ist fast schon um.

Oliver Dunk: Das nächste ist schon wieder in der Pipeline oder…?

Michael Tsokos: Das nächste ist schon wieder in der Pipeline, ja. Das ist aber ein relativ kurzes, eine Kurzgeschichte. Da gibt es eine Spezialedition vom Verlag nächstes Jahr.

Oliver Dunk: Okay. Sie haben ja vorhin schon mal ein bisschen erzählt, wie das so ist mit dem Schreiben. Also im Grunde jede freie Minute nutzen Sie, Laptop auf und dann wird da reingeschrieben. Ich kann mir vorstellen, Sie haben gar keine Zeit, sich abends mal Ihren Kollegen Boerne im „Tatort“ anzugucken?

Michael Tsokos: Doch, den gucke ich mir tatsächlich regelmäßig an, weil ich mit Jan-Josef auch tatsächlich befreundet bin, auch mit Axel Prahl. Das hat sich eben auch mal tatsächlich über die Rechtsmedizin und so eine Fachberatung ergeben. Wir kennen uns jetzt sehr gut seit über zehn Jahren und die finde ich super. Aber ich gucke das natürlich nicht an, um mich da fachlich inspirieren zu lassen.

Oliver Dunk: Es ist für Sie kein Schulfernsehen. Und Jan-Josef Liefers, kommt der Mal zu Ihnen und sagt „Michael, sag mal, wie mache ich das denn hier?“?

Michael Tsokos: Das ist tatsächlich so. Der ruft mich dann an und sagt „Du, ich sitze hier am Drehbuch. Das ist doch Quatsch, was hier steht. Sag mal, wie ist denn das?“ und dann gebe ich meine Einschätzung. Aber am Ende ist es dann meistens der Dramaturgie geschuldet, dass es Quatsch bleibt.

Oliver Dunk: Aber die Sachen, die wir so sehen, also gerade in diesem „Tatort“ aus Münster… Münster, glaube ich, ist es, ne?

Michael Tsokos: Mhm.

Oliver Dunk: Genau. Wie viel ist denn da Quatsch? Also wenn zum Beispiel in dem Fall und anderen Krimis auch immer die Rechtsmediziner sofort mit am Tatort sind?

Michael Tsokos: Also bei Tötungsdelikten sind wir tatsächlich mit am Tatort, wenn der Verdacht besteht, wenn geklärt werden muss, was war die ungefähre Todeszeit, damit die Polizei dann gleich weiß, in welche Richtung geht es mit Zeugenbefragungen, was kommt als Tatwaffe in Frage, wonach müssen wir in umliegenden Mülltonnen suchen oder in umliegenden Gewässern. Dann sind wir schon am Ort des Geschehens.

Oliver Dunk: Jetzt kommt man in den Sektionssaal im Film, dann stehen da oft die Angehörigen der Toten.

Michael Tsokos: Völliger Quatsch.

Oliver Dunk: Das gibt es nicht?

Michael Tsokos: Völliger Quatsch, ja. Also erstmal sind natürlich Angehörige oder aus dem engen Familienkreis Stammende in der Regel erstmal Haupttatverdächtige. Die meisten Tötungsdelikte sind Beziehungstaten und da können Sie die natürlich nicht reinlassen, dass die vielleicht noch falsche Spuren legen, DNA-Spuren da hinterlassen und natürlich sind die Opfer, die wir untersuchen, in der Regel auch in einem Zustand, dass Sie das den Angehörigen gar nicht zumuten können.

Oliver Dunk: Also zur Identifikation zum Beispiel kommt keiner zu Ihnen?

Michael Tsokos: Da kommt keiner zu uns rein, nein.

Oliver Dunk: Dann nächste Legende wahrscheinlich, dass man in Filmen sieht, wie Ihre Kollegen nebenbei ins Brötchen beißen.

Michael Tsokos: Ja, macht man auch nicht, nein. Das würde man auch…

Oliver Dunk: Aus Pietätsgründen oder weil es ekelig ist?

Michael Tsokos: Also erstmal aus Pietätsgründen. Wenn da ein Toter liegt, da kann ich weder essen noch trinken oder irgendwas. Das gehört sich nicht. Aber es riecht ja auch und da wollen Sie wirklich den Geschmack nicht mit Ihrem Brötchen im Mund reinnehmen.

Oliver Dunk: Süßlich, nehme ich mal an, ist der Geruch. Da gibt es ja dann die Paste, die man sich um die Nase schmiert.

Michael Tsokos: Schmiert sich auch kein Mensch unter die Nase.

Oliver Dunk: Diese Mentholpaste – macht keiner?

Michael Tsokos: Nein. Nein. Nein. Thomas Harris „Das Schweigen der Lämmer“ hat das mal aufgebracht und seitdem hält sich dieser Mythos hartnäckig. Nein, keiner schmiert sich Mentholpaste unter die Nase.

Oliver Dunk: Dann gibt es ja noch einen anderen Mythos: Aus den Filmen kennt man das immer, da heißt es ja „Der ist jetzt in der Pathologie“.

Michael Tsokos: Genau.

Oliver Dunk: Und das ist totaler Blödsinn?

Michael Tsokos: Totaler Blödsinn.

Oliver Dunk: Erklären Sie uns mal, wie es richtig heißt.

Michael Tsokos: Der ist in der Rechtsmedizin beziehungsweise im Institut für Rechtsmedizin, denn wir untersuchen nicht natürliche Todesfälle. Pathologen untersuchen Krankenhaustodesfälle. Da ist die Staatsanwaltschaft und Polizei gar nicht involviert. Wir machen das nur auf Anweisung der Staatsanwaltschaft.

Oliver Dunk: Und der Pathologie muss nicht immer einen Todesfall untersuchen, der kann auch gucken, ist da ein Krebsgeschwür oder…

Michael Tsokos: Genau, die sitzen eigentlich in der Regel an Mikroskopen und untersuchen jetzt, auf welche Medikamente sind bestimmte Tumoren reagibel und so.

Oliver Dunk: Ein empathischer, ein positiv denkender Mensch trotz dieses harten Jobs, der Rechtsmediziner Michael Tsokos. Also ich habe Sie schon über Jahre immer verfolgt im Fernsehen in Talkshows, mit Ihren Büchern und in der Zeitung ganz oft, wo Sie dann als Experte hingezogen werden. Ich kann mir gut vorstellen, wenn man jeden Tag so stark mit dem Tod konfrontiert ist, dass man das Leben besonders schätzt oder vielleicht nochmal einen ganz anderen Blick darauf hat, oder?

Michael Tsokos: Auf jeden Fall. Also man setzt sich eigentlich nicht mit dem Tod auseinander, sondern mit dem Leben und man ist für jeden Tag dankbar, den man hat, weil ich natürlich besser als jeder andere auch weiß, wie schnell ein Unglücksfall passieren kann. Jemand geht morgens aus dem Haus und wird von irgendwas Herabfallendem, von einem Baugerüst erschlagen oder wird von einem Auto überfahren. Deshalb der Blick auf das Leben wird eigentlich geschärft als Rechtsmediziner.

Oliver Dunk: Ist es nicht so, weil Sie ja gerade erleben, was alles passieren kann, dass Sie vielleicht viel mehr Angst haben, also eben vorm herunterfallenden Dachziegel oder vorm Auto?

Michael Tsokos: Nein. Nein, also vor diesen ganzen Dingen kann man sich gar nicht schützen. Wie will man sich vor einem Flugzeug, was vielleicht abstürzt, und ich gehe gerade in mein Auto und will einsteigen, schützen? Das kann man nicht. Man muss einfach da auch positiv rangehen. Ich habe jetzt nicht mehr Angst als früher vor irgendwelchen Dingen.

Oliver Dunk: Abschalten. Sie haben ja schon gesagt, Sie schreiben, um viele Dinge zu verarbeiten, aber um da wirklich aus diesem Umfeld rauszukommen… also als Außenstehender, ich stelle mir das ganz schrecklich vor. Wie funktioniert das bei Ihnen, um wirklich da Cut…?

Michael Tsokos: Also was für mich wirklich Balsam für die Seele ist, ist Angeln. Wir haben da so einen kleinen Steg in Brandenburg mit einem Boot und ich habe den Fischereischein für Brandenburg, habe da eine Angelkarte und wenn ich da mit einem oder zwei meiner Söhne rausfahre und wir die Angel hängen lassen, das ist so richtig Balsam für die Seele bei jeder Jahreszeit. Sie sehen das glatte Wasser des Sees, mal beißt was an mal n und so, aber das ist für mich sowas, um runterzukommen.

Oliver Dunk: Und für die Jungs gibt es dann Nachhilfe beim Sezieren der Fische, oder wie?

Michael Tsokos: Ja, die machen das mittlerweile selber.

Oliver Dunk: Wirklich, ja?

Michael Tsokos: Ja, ja. Betäubungsschlag, Herzstich, Ausnehmen, das müssen sie alles selbst machen.

Oliver Dunk: Und was sagen die über den Papa? Also nach dem Motto „Ich möchte den Beruf auch mal machen“ oder „Darf ich mal mitkommen zur Arbeit?“. Mein Vater hat auf dem Bau gearbeitet. Da durfte ich mal mitgehen. Dürfen Kinder da rein? Nee, machen sie natürlich nicht.

Michael Tsokos: Nein. Nein. Also mein ältester Sohn hat, als er 18 war, ein Praktikum gemacht, ein Schulpraktikum und finde ich das ganz spannend und überlegt auch Medizin zu studieren. Der zweitälteste hat auch schon gesagt, er will das Praktikum machen. Aber die will ich nun nicht alle da um mich rum sehen.

Oliver Dunk: Und Sie helfen den Jugendlichen auch, indem Sie Spurensicherungskästen entwickeln, habe ich gelesen.

Michael Tsokos: Genau. Ich hatte mal eine Idee, weil ich selber auch als Kind so Chemiekästen ganz spannend fand. Aber das ist ein bisschen zu abstrakt. Da habe ich einen Forensikkasten entwickelt, den man dann eben als Experimentierkasten tatsächlich… da kann man so Blutspuren nachweisen und gucken, was das für Tiere waren und so.

Oliver Dunk: Ach so, was ist das dann für ein…? Es ist kein Blut, das man dazu braucht? Oder doch?

Michael Tsokos: Doch. Doch. Man sammelt dann schon irgendwo was auf und kann das dann untersuchen.

Oliver Dunk: Sich mal in den Arm schneiden oder so, mal gucken, ob es auch funktioniert.

Michael Tsokos: Kann man auch, ja.

Oliver Dunk: Michael Tsokos, Buchautor. Kann man eigentlich sagen „Krimiautor“ oder würden Sie sagen „Ich mache keinen Krimi, das ist mir zu abgedroschen“?

Michael Tsokos: Eigentlich sind es Thriller. Vom Genre her sind es Thriller. Wobei ich nicht ausschließen will, dass ich auch mal einen Krimi schreibe.

Oliver Dunk: Aber weil Sie vorhin gesagt haben „Ich mache nichts mit diesem Gruselschockfaktor“: Ist nicht ein Thriller gerade darauf aufgebaut, dass man da eben viele Überraschungsmomente hat?

Michael Tsokos: Nee, Thriller ist meiner Definition nach eher was, was ordentlich Tempo hat und wo die ganze Zeit die Spannung hoch gehalten wird. Das versuche ich eben auch in den Büchern, dass da wirklich durchgehend Bewegung drin ist.

Oliver Dunk: Also Krimi ist eher so wie „Derrick“, träge und die Geschichte erzählt und…?

Michael Tsokos: Ja, und „Wo waren Sie denn gestern um 16 Uhr 05?“. Boah, zwei Typen im Mantel in der Eingangstür, das hat man schon tausendmal gesehen. Bitte nicht.

Oliver Dunk: Das ist aber auch Fake, das ist in Wirklichkeit nicht so? Diese Frage ist so eine Filmfrage, ne?

Michael Tsokos: Ich bin ja selbst nicht mit bei der Befragung dabei. Aber ich glaube, das ist schon so abgedroschen, das würde keiner mehr machen.

Oliver Dunk: So, Endspurt mit Rechtsmediziner Michael Tsokos. Ich könnte jetzt sagen „Ich hoffe, wir sehen uns nur hier und nirgendwo anders“.

Michael Tsokos: Sie würden mich sowieso nicht sehen. Ich würde Sie sehen, wenn Sie bei mir liegen.

Michael Tsokos und die Halbsätze

Oliver Dunk: Ich will Sie aber auch also so oder so dann auf keinen Fall sehen. Nee, ich hoffe, das passiert erstmal nicht. Ich habe noch ein paar Halbsätze, die Sie bitte vervollständigen. Den Fernseher schalte ich immer ein, wenn…

Michael Tsokos: Der Münsteraner „Tatort“ kommt.

Oliver Dunk: Okay.

Michael Tsokos: Das ist tatsächlich so.

Oliver Dunk: Mit Ihrem Freund Jan-Josef.

Michael Tsokos: Genau.

Oliver Dunk: Und Axel Prahl.

Michael Tsokos: Genau. Genau.

Oliver Dunk: Ich meine, mal eine Frage: Wir haben ja vorhin kurz gesprochen. Warum, wenn das Quatsch ist mit dieser Mentholsalbe und dass die im Sektionssaal dann essen und so, warum wird das trotzdem gemacht? Weil es besser aussieht oder…?

Michael Tsokos: Ja, ich glaube, weil das einfach Klischee bedienen muss. Auch mit diesen ganzen Angehörigen, die dann durch den Sektionssaal flanieren zum Identifizieren, weil man damit Schockmomente erzeugen kann. Einfach der Dramaturgie geschuldet.

Oliver Dunk: Gucken Sie auch Fernsehen, wenn Ihre eigenen Filme laufen? Also einige sind ja schon verfilmt worden.

Michael Tsokos: Ja, gucke ich, einfach um mal zu sehen, wie meine Frau reagiert, die es dann meistens nicht kennt, die aber immer am Nöhlen ist, dass das so spät kommt. Die sagt „Oh, ich möchte eigentlich ins Bett“. Also da gucken wir schon…

Oliver Dunk: Die laufen nicht um 20 Uhr 15 oder geht Ihre Frau so früh ins Bett?

Michael Tsokos: Nee. Nee, nee. Die laufen so, ich glaube, ab 22.30. 22 Uhr darf das gesendet werden, weil es meistens ab 16 ist.

Oliver Dunk: Was ich mir so vorstelle, wenn man sich dann als Autor, wo das ja alles im Kopf irgendwie abgelaufen ist, Sie haben ja die meisten Dinge dann auch noch erlebt, plötzlich den Film sieht, dass man sich wundert „Komisch, also ich habe es mir ganz anders vorgestellt“?

Michael Tsokos: Nee. Nee. Ich bin in der Regel auch an vielen Drehtagen dabei auch als Fachberater und gucke es mir an, weil ich natürlich auch sehen will, dass meine Figuren da vernünftig dargestellt werden. Ich habe auch zum Beispiel zu Tim Bergmann, zu dem Hauptdarsteller aus der Fred-Abel-Reihe, einen sehr engen persönlichen Kontakt. Also da kommt keine böse Überraschung.

Oliver Dunk: Michael Ende „Die unendliche Geschichte“ hat die Verfilmung Anfang der 80er Jahre gesehen, kam aus dem Kino, wurde von einem Kritiker gefragt „Und, Herr Ende, wie finden Sie es?“, sagt er „Also muss ich mal sagen, das war nicht ‚Die unendliche Geschichte‘, das war ‚Die unkenntliche Geschichte‘“.

Michael Tsokos: Nee, so kam es mir noch nie vor.

Oliver Dunk: Okay. Meine größte Niederlage?

Michael Tsokos: Also da gibt es natürlich… ach, das ist jetzt aber wirklich schwierig, mich hier so zu überfallen. Meine größte Niederlage ist eigentlich, dass ich vier Söhne und nur eine Tochter habe. Ich hätte gerne vier Töchter und einen Sohn.

Oliver Dunk: Sie sind jung, es ist nie zu spät.

Michael Tsokos: Nee. Nee.

Oliver Dunk: Meine Schwäche ist?

Michael Tsokos: Ich bin ungeduldig und erwarte leider zu oft auch die Schlagzahl und das Tempo, was ich vorlege, bei anderen.

Oliver Dunk: Finde ich sehr sympathisch. Und meine Geburtsstadt?

Michael Tsokos: Kiel.

Oliver Dunk: Was verbindet Sie mit Kiel?

Michael Tsokos: Ostsee, Strand, Dorsche angeln, raus aufs Wasser, viel Regen, natürlich auch viel schlechtes Wetter. Aber einfach eine schöne Stadt am Wasser.

Oliver Dunk: Der Papa ist ja Grieche.

Michael Tsokos: Genau.

Oliver Dunk: Schiffsoffizier?

Michael Tsokos: Der war Schiffsoffizier, genau.

Oliver Dunk: Genau. Noch eine Verbindung zu Griechenland oder so, dass Sie sagen „Das ist eine heimliche Liebe“ oder so?

Michael Tsokos: Also wir fahren tatsächlich jedes Jahr, dieses Jahr ist es nun leider ausgefallen, nach Kos, griechische Insel, und das ist wirklich so ein Gefühl der Heimat. Ich komme zwar nicht von Kos. Meine Familie kommt aus einem kleinen Ort in der Nähe von Athen, der nicht so malerisch ist. Aber das ist schon schön da in Griechenland und dann auch die griechische Sprache zu hören da und so, das ist toll.

Oliver Dunk: Guck mal an, also Ihr Vater Grieche, Mama Deutsche. Jetzt Ihre Frau Griechin, Sie…

Michael Tsokos: Nee, meine Frau ist Deutsche.

Oliver Dunk: Ach so, ich habe verstanden, Ihre Frau wäre Griechin.

Michael Tsokos: Nee, nee, nee, die ist Deutsche.

Oliver Dunk: Okay. Na gut, also hat das jetzt nicht so funktioniert, wie ich es wollte. Aber egal. Aber ich darf das Buch nochmal ganz kurz zeigen, Michael Tsokos, „Zerrissen“ heißt es und hier steht schon: Spiegelbestsellerautor. Da können Sie stolz drauf sein.

Michael Tsokos: Danke schön.

Oliver Dunk: Danke, dass Sie da waren. Alles Liebe und vor allen Dingen bleiben Sie gesund.

Michael Tsokos: Vielen Dank. Das wünsche ich Ihnen auch. Danke.

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